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Julia Fischer
„Ich habe das Glück zwei völlig verschiedene Orte als Heimat zu betrachten.”
Hallo, ich bin Julia und nach 15 Jahren Leben und Arbeiten im Ausland vor ca. einem Jahr in meine Heimat zurückgekehrt. Nun arbeite ich in Meiningen bei der Tourist-Information und absolviere außerdem einen 6-monatigen Stadtführer-Lehrgang, um interessierten Gästen unsere wunderschöne Stadt näherzubringen. Für mich war Meiningen trotz der langen Zeit in Sri Lanka immer meine Heimat, die mir vielleicht gerade wegen der langen Abwesenheit sehr viel bedeutet. Doch auch auf der Insel in den Tropen habe ich Heimat gefunden, denn man fühlt sich in der Tat immer dort zuhause, wo das Herz ist. Für mich bedeutet Heimat ein Ort, an dem ich mich einfach wohl und verbunden fühlt – sowohl durch verschiedene Menschen, die ich schon lange kenne, als auch durch Gerüche, Geschmäcker, bestimmte Plätze oder Gebäude, die mir vertraut sind. Somit ist für mich Heimat nicht zwangsweise nur der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin, sondern auch etwas, was man erst im Laufe des Lebens kennen- und liebenlernen kann. Es ist ein wandelbarer Begriff. Während die einen vielleicht stets nur ein und denselben Ort als Heimat bezeichnen, so ist für andere Menschen Heimat mal hier und mal dort – zeitlich aufeinander folgend oder vielleicht auch parallel. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich das große Glück habe, in meinem Leben zwei völlig verschiedene Orte als Heimat zu betrachten und natürlich verbinden mich auch unterschiedliche Dinge mit ihnen.
© Kati Schulz
Steckbrief
Name: Julia Fischer
Wohnort: Meiningen
Alter: 39 Jahre
Hobbys: Lesen, Singen, Feiern & Spielen mit Freunden
Lieblingsspruch: „Ein freundliches Wort ist mehr wert, als es kostet!“
Meine Heimatstadt Meiningen bedeutet für mich Kleinstadt-Idylle, Kindheitserinnerungen, Familie, Schulfreunde, viel Natur und eine gewisse Beständigkeit und Verlässlichkeit, die auch in all den Jahren nicht verloren gegangen ist. Auch wenn es viele meiner früheren Freunde an die verschiedensten Orte der Welt verschlagen hat, so gibt es in Meiningen immer noch Menschen (und es wird sie auch immer geben), die einfach da sind, mit denen man sich treffen und quatschen kann, so als wäre nie Zeit vergangen. Das ist wirklich toll und hat es mir sehr leicht gemacht, mich hier wieder richtig zuhause zu fühlen. Außerdem habe ich hier in Meiningen meine lieben Eltern, die mir in meinem Leben stets eine große Hilfe und Stütze waren, die meinen Lebensweg nie angezweifelt oder verurteilt haben. Stattdessen waren sie stolz auf mich und meine Arbeit für bedürftige Kinder in Sri Lanka und hätten niemals von mir verlangt, eines Tages zurückzukommen. Trotzdem habe ich mich zu einem großen Teil ihretwegen dazu entschieden, denn genauso, wie sie immer für mich da waren, möchte ich ihnen dies im Alter gerne zurückgeben und das ist für mich eine Selbstverständlichkeit und ein Bedürfnis.
Julia Fischer auf der Wildblumenwiese im Englischen Garten in Meiningen © Kati Schulz
Wenn ich an Sri Lanka und das Angels Home denke, sind es natürlich andere Dinge, die hängengeblieben sind und die mich beeindrucken. So gibt es nichts Schöneres, als den Duft vom Indischen Ozean in der Nase oder die Unbeschwertheit vieler Menschen, die sich nicht so viele Gedanken machen wie wir und einfach in den Tag hineinleben und das Beste daraus machen, egal wie viel Schlimmes sie in ihrem Leben schon durchmachen mussten. Sri Lanka bedeutet für mich Abenteuer, Wärme, Überlebenskunst, scharfes Curry und ganz viel Liebe und Idealismus. Es ist ein Teil von mir und ich habe in den 15 Jahren auf der Insel unheimlich viel gelernt, was ich nicht missen möchte. Dabei rede ich nicht in erster Linie von theoretischem Wissen, sondern viel mehr von Lebenserfahrung, Werten und Eigenschaften, die mich heute zu dem Menschen machen, der ich bin.
Ich kann nicht sagen, dass ich nur Meiningen oder nur Sri Lanka lieber als Heimat bezeichnen würde, da beide Fleckchen Erde für mich eine zentrale und wichtige Bedeutung haben. In Meiningen habe ich meine Wurzeln, kenne jede Ecke und genieße die wunderschöne Natur ringsherum. Die Einzigartigkeit und Attraktivität dieser Stadt wurden mir in den letzten zwei Jahren noch einmal besonders deutlich, denn man sieht vieles mit anderen Augen, wenn man es länger nicht (intensiv) betrachtet hat. Meiningen hat allerhand zu bieten und stellt für eine Stadt dieser Größe ziemlich viel auf die Beine. Da ich durch meinen Beruf aktuell auch mitbekomme, wie viel da eigentlich dranhängt und was alles beachtet werden muss, ziehe ich meinen Hut vor allen Verantwortlichen. In unserer Gesellschaft gibt es immer Kritiker und Nörgler, die über jede Stadt und jede Veranstaltung etwas auszusetzen haben, aber denen kann ich mit srilankischer Gelassenheit ganz entspannt ins Gesicht lächeln. Man wird es sowieso nie jedem recht machen können.
In Sri Lanka kann man da schon eher einen deutlichen Verbesserungsbedarf ausmachen, allerdings sehe ich diesen sicherlich auch nur mit und wegen meiner deutschen Wurzeln. So fallen mir beispielsweise bürokratische Unsinnigkeiten auf. Ich bemängle die Hierarchien und Autoritäten im staatlichen System ebenso wie in Unternehmen oder sogar im familiären Bereich. Mädchen und Frauen aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen sind kaum etwas wert – geschweige denn ihre Meinungen, ihre Wünsche und Träume oder gar ihre Ideen und Zukunftsvisionen. Gerade deshalb habe ich mich in den letzten 15 Jahren meines Lebens so stark für solche Mädchen eingesetzt, weil ich es mit meinen deutschen Wertvorstellungen nicht annehmen kann, dass es ihnen so schwer gemacht wird. Und dennoch fühlt sich diese Arbeit auch nach 15 Jahren an, wie der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Man kann leider gar nicht so viel verändern, wie man denkt und am Ende stellt man sich die Frage, für wen das eigentlich schlimmer ist: für diese Mädchen, die es in ihrem Leben und in ihrem System nie anders kennengelernt haben oder für mich selbst, weil ich – geprägt von meiner Herkunft – Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit empfinde?
Fotos: Julia bei ihrer Projektarbeit im Angels Home (Dry Lands Project e. V.) © privat
Weitere Infos zum Projekt unter www.dry-lands.org
Sri Lanka und Deutschland haben so viele Unterschiede, dass ich es eigentlich ziemlich toll finde, zwei solch verschiedene Länder als Heimat zu betrachten und mir aus beiden Mentalitäten für meinen eigenen Charakter etwas mitzunehmen. So gibt es mit Sicherheit einige typisch deutsche Verhaltensweisen an mir und genauso haben sich in Sri Lanka Eigenschaften herausgebildet, die ich vorher nicht hatte. So kann beispielsweise in Sri Lanka keiner verstehen, wenn ich wegen 30 Minuten Verspätung bei einem Termin verärgert bin und in Deutschland denken alle, ich brauche psychologische Hilfe, wenn ich durch die Stadt laufe und fremde Menschen anlächele.
Fotos: Kati Schulz
Sowohl in Meiningen als auch in Sri Lanka haben sich für mich über die Jahre ein paar Lieblingsplätze herausgebildet, die ich gerne besuche oder wo ich mich besonders wohl fühle. In der deutschen Heimat gehört dazu auf jeden Fall die Schaubachhütte, die ich von meiner Wohnung aus sehen kann und deren An- und Ausblick mir gerade in der ersten Zeit in Deutschland sehr beim Wieder-Einleben geholfen haben. Außerdem mag ich die Natur in unseren beiden Parks und die Atmosphäre in der katholischen Kirche. In Sri Lanka habe ich es mir in den letzten Jahren zur Tradition gemacht, einmal pro Jahr den heiligen Berg Adams Peak zu erklimmen, der mit 2243 Metern der dritthöchste Berg der Insel ist. Den Aufstieg mit über 5000 Treppenstufen beginnt man in der Nacht, um frühmorgens einen sagenhaften Sonnenaufgang zu erleben. Wenn man dort oben steht, scheinen alle Probleme dieser Welt so klein und nichtig, man ist einfach eins mit der Natur und genießt den Augenblick.
Meiner Meinung nach ist es völlig egal, welchen Ort man als Heimat bezeichnet oder wo man sich zuhause fühlt – die Hauptsache ist, dass jeder Mensch irgendwann ein solches Gefühl empfindet, denn es gibt uns und unserem Leben einen Sinn und eine Richtung.
Erschienen in der Ausgabe 07/2023 (zum Heftarchiv).