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Heimatjournal
01 September, 2023

4 Min. Lesezeit

Margitta Köhler-Knacker

„Ich fühle mich in Wüstensachsen und Frankfurt a. M. heimisch.”

In Wüstensachsen 1953 geboren und aufgewachsen, fühle ich, Margitta Köhler-Knacker, mich meinem Heimatort, den Menschen dort und auch der wunderbaren Landschaft der Rhön sehr verbunden.

Ich erinnere mich noch gut an mein Grundschulzeit in Wüstensachsen: Unsere Lehrerin Frau Winter musste zum Teil zwei Klassen gleichzeitig betreuen. Körperliche Strafen, wie an den Haaren ziehen und mehr, waren an der Tagesordnung. Ich war ein braves kleines Mädchen und wurde zum Glück davon verschont. Mit drei Mitschülerinnen aus meiner Klasse wechselten wir, dank der Fürsprache eines jungen Grundschullehrers zum Gymnasium nach Hilders. Wir vier wurden eine eingeschworene Gruppe, fuhren mit dem Zug, den es damals noch gab. Nachmittags mussten wir bis drei Uhr auf den Zug warten, da war Zeit für allerlei Quatsch. Wir wurden eine enge Freundinnengruppe und treffen uns mindestens einmal jährlich und nennen uns die „Rhönmädels“. Nach einem Jahr Handelsschule in Fulda begann ich meine Lehrzeit im Schneiderbetrieb meines Vaters und machte die Prüfung als Damenmantelnäherin, eine Berufsbezeichnung, die es heute nicht mehr gibt. Ein Jahr Praktikum im Beruf führte mich dann nach Frankfurt in andere Betriebe. Das war eine ganz andere Welt. Anfangs fühlte ich mich in der Stadt als „Nobody“ und dachte daran, wenn ich wieder in Wüstensachsen ankam, dass ich hier „die Köhlersch Margit“ bin.

© Kati Schulz


Steckbrief
Name: Margitta Köhler-Knacker
Wohnort: Wüstensachsen
Alter: 69 Jahre


Das Institut für Modeschaffen, untergebracht in der alten Opelvilla in Sachsenhausen, war meine nächste Station für zwei Jahre. Mit dem Abschluss als Bekleidungstechnikerin hätte ich eine Stelle in Frankfurt bei Neckermann antreten können. Durch Zufall traf ich eine Schulfreundin aus dem Dorf, die das Maturum in Frankfurt entdeckt hatte. Dort konnte man sich auf das externe Abitur vorbereiten. Eine tolle intensive Zeit mit vielem Lernen endete dann auch mit dem Bestehen des Abiturs. Mein Mann Thomas war ein wichtiger Grund, dass ich nach Frankfurt gegangen bin. Er war auch vom Dorf und studierte ebenfalls in Frankfurt am Main. An der Technischen Universität Darmstadt erwarb ich nach vier Jahren Studium das erste Staatsexamen für das Lehramt an beruflichen Schulen, Referendariat an den Beruflichen Schulen Bensheim und die Stelle an der Frankfurter Schule für Bekleidung und Mode, wo ich sehr gerne 36 Jahre lang unterrichtete.

Der Grumbach, das Schwimmbad, der Paddelteich in Wüstensachsen und Frau Köhler-Knacker © Kati Schulz

Blick auf Wüstensachen © Kati Schulz

Dem elterlichen Betrieb „Köhler & Krenzer“ in Wüstensachsen bin ich noch viele Jahre verbunden geblieben, habe in den Semesterferien dort gearbeitet und bin mit auf Messen gefahren. Das weit hin bekannte Bekleidungshaus Köhler besteht nun schon über 50 Jahre und wird von meinem Bruder und seiner Frau geführt.

Frankfurt am Main © Margitta Köhler-Knacker

Meine zweite Wahlheimat Frankfurt schätze ich sehr, da ich bis zu meiner Pensionierung hier sehr gerne tätig war. Auch meine Tochter Katharina wohnt mit ihrer Familie hier. Wüstensachsen und Frankfurt sind wie zwei verschiedene Welten, die sich für mich sehr gut ergänzen: In Frankfurt genieße ich das vielfältige kulturelle Leben der Stadt und in Wüstensachsen, das Miteinander mit den vielen bekannten Menschen, der gemeinsame Dialekt, die üppige Natur, in die das Dorf eingebettet ist und unser wunderbares Freibad, das zusammen mit dem Paddelteich und dem Minigolfplatz ein Kleinod ist. Ich bin im Schwimmbadverein und genieße den Besuch so oft es geht, fern ab von Trubel.

Margitta Köhler-Knacker schaut in ihr Buch "Die jüdische Gemeinde in Wüstensachsen" © Kati Schulz

Ich interessiere mich auch für die Geschichte unseres Dorfes. 2022 habe ich ein Manuskript zur Jüdischen Gemeinde in Wüstensachsen überarbeitet und als Buch herausgebracht. Zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte des Dorfes kam ich durch Erzählungen in meinem Elternhaus. Die Familie meines Vaters, die im „Unterdorf“ lebte, war dort umgeben von jüdischen und katholischen Nachbarn. Man respektierte sich, war manchmal befreundet und half sich gegenseitig, bis die Hetze der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung einsetzte.

Es gab bereits eine Liste mit den Namen der jüdischen Wüstensachsener, aufgezeichnet von zwei älteren Dorfbewohnern, aber keinerlei Unterlagen, Fotos, Akten über die jüdische Gemeinde. Als ich dann 1998 im Archiv des jüdischen Museums die Akte „Wüstensachsen“ in die Hand bekam, eröffnete sich diese bisher – für mich – verschlossene Welt sozusagen mit einem Schlag. Es befanden sich die Memoiren des jüdischen Metzgermeisters David Gruenspecht in dieser Akte.

In diesen hat David Gruenspecht das Schicksal aller Mitglieder der jüdischen Gemeinde Wüstensachsen aufgeschrieben. Die Familie Gruenspecht konnte sich durch die Bürgschaft eines Cousins und mit viel Glück rechtzeitig in Sicherheit bringen und nach New York emigrieren.

Besonders wertvoll wurde dann der Kontakt zu den ehemaligen jüdischen Mitbürgern. Alfred Gruenspecht, Lothar Braunschweiger und Fred Buchsbaum lebten in USA. Briefe, E-Mails gingen hin und her bis zu einem persönlichen Besuch in dem bekannten Wohnviertel in New York in den Washington Heights und in Chicago.

Auch Alfred Gruenspecht hat seine Memoiren verfasst und ein Kapitel über seine Kindheit und Jugend in Wüstensachsen beschrieben. Das habe ich für das Buch ins Deutsche übersetzt.

Zunächst hatte ich ein Manuskript erstellt und veröffentlicht und das Interesse an der jüdischen Geschichte der Gemeinde nahm zu. Vorträge und Veröffentlichungen folgten. Es wurde ein Mahnmal für die Jüdische Gemeinde eingeweiht, von einem Wüstensachsener Künstler, Johannes Kirsch, geschaffen.

Foto links: Krieg-Denkmal © Kati Schulz

Foto rechts: Stolpersteine © Margitta Köhler-Knacker

2021 hat sich die Gruppe „Stolpersteine“ gegründet, unterstützt vom Bürgermeister Peter Kirchner. Im November 2021 wurden die ersten 16 Stolpersteine verlegt und es gab einen Abend der Erinnerungen mit Vorträgen und Liedern. Am 6. Dezember 2023 gibt es die dritte Stolperstein-Verlegung.

Eine besondere Freude ist, dass ich über das Internet auch die Nachkommen der drei Familien gefunden habe, die wir in den USA besucht hatten. Bei der zweiten Stolperstein Verlegung mit 14 Stolpersteinen konnte ich einen berührenden Brief der Töchter von Fred Buchsbaum verlesen. Auch mit den Nachkommen der Familie Gruenspecht gibt es Mailkontakt. Die Familie hat das Buch ins Englische übersetzen lassen, da niemand Deutsch konnte und sie somit auch die Memoiren des Urgroßvaters David nicht lesen konnten.

Landschaft um Wüstensachsen © Kati Schulz

Zusammenfassend kann ich sagen, dass HEIMAT für mich neben der Geschichte unserer Region, auch das vielfältige, kulturelle Leben in Frankfurt sowie auch in der Rhön ist. Das Mitwirken in Vereinen und Gruppen wird bereichert durch Veranstaltungen und Feste. Aber auch die herrliche Landschaft in und um Wüstensachen lässt mein Herz immer wieder höherschlagen. Hier gibt es neben Wanderwegen und tollen Ausblicken eine Menge zu entdecken und zu genießen.

Erschienen in der Ausgabe 09/2023 (zum Heftarchiv).